Der folgende Text ist ein Auszug aus der von mir neu herausgegebenen und kommentierten Ukraine-Reise Johann Georg Kohls. Der deutsche Reiseschriftsteller hat uns mit seinem Werk „Reisen im Inneren von Russland und Polen“ ein wertvolles historisches Dokument über die russische Kolonisierung der Ukraine im 19. Jahrhundert und dem alltäglichen Bemühen der Ukrainer, ihre kulturelle Identität und Sprache zu bewahren, hinterlassen.
Was zunächst ihre Sprache betrifft, so bildet die der Kleinrussen entschieden den älteren, obgleich jetzt in der russischen Literatur zurückstehenden slawischen Dialekt. Er hat dies beides mit der niedersächsischen Sprache in ihrem Verhältnisse zum Oberdeutschen gemein und ist auch, wie jene den übrigen germanischen Sprachen, dem Holländischen, Dänischen, Englischen und Schwedischen, nähersteht als das Oberdeutsche, den übrigen slawischen Sprachen, dem Serbischen, Slawonischen, Tschechischen, Wendischen usw. weit ähnlicher als das neuere Großrussische. Die Verschiedenheit zwischen dem Groß- und Kleinrussischen ist ebenso stark wie die zwischen dem Nieder- und Oberdeutschen und sonderbarerweise hat auch das Kleinrussische für das Ohr eines Großrussen denselben oft komischen Effekt, den das ältere und daher ehrwürdigere Holländische oder Niederdeutsche für den jüngeren Oberdeutschen hat. Es ist uns hier natürlich unmöglich, alle die Verschiedenheiten jener beiden Dialekte anzuführen; doch geben wir einige Proben.
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Die kleinrussische Sprache ist, wie gesagt, ihren Wurzeln und ihrer Bildung nach eine rein slawische und man darf sie nicht, wenn auch der äußere Schein dazu verleiten könnte, für ein Gemisch von Tatarischem, Polnischem und Russischem halten. Alles Polnische und Tatarische, was ihr beigemischt ist, hat so wenig Einfluss auf die Flexion und Entwicklung der Sprache gehabt, dass es noch viel leichter wieder hinausgeworfen werden könnte als das Französische und Lateinische aus unserer deutschen Sprache. Die tatarischen und polnischen Wörter sind bloß wie Ouarzkristalle in eine Porphyrmasse eingestreut und lassen sich leicht erkennen. Übrigens fragt es sich, ob die Großrussen nicht noch mehr tatarische und mongolische Wörter bei sich eingebürgert haben, und sehr oft besitzen die Kleinrussen da die alte slawische Benennung, wo die Großrussen eine mongolische annahmen; so heißt z. B. das Pferd im Kleinrussischen, wie in den meisten slawischen Sprachen, »kon1«, im Großrussischen aber mongolisch »lochat2«.
1Ukr.: кінь ⋅ kin‘
2Rus.: лошадь ⋅ lošad‘; turksprachliches Lehnwort, vgl. Tat.: алаша ⋅ alaša