Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem Erstlingsroman Mein Dein Leben. Die französische Slawistikstudentin Natalie Goron hat vor, für die Recherche zu ihrer Doktorarbeit nach Russland zu reisen. Daher sucht sie online nach einem Einheimischen, der ihr Sankt Petersburg zeigen möchte.
Seit ich mit meinem Studium begonnen hatte, hatten mich meine russischen und ukrainischen Studienkollegen nahezu dazu genötigt, mir ein Profil im größten russischen sozialen Netzwerk anzulegen. Lange hatte ich mich dagegen gewehrt, war ich doch auch dem amerikanischen Pendant gegenüber skeptisch eingestellt. Dort hatte ich zwar ein Profil, das ich jedoch kaum jemals nutzte.
Nicht, dass ich altmodisch gewesen wäre, nein, sehr wohl wusste ich die Vorteile moderner Technologie für meine Zwecke – vor allem für meine Forschungsarbeit – zu nutzen. Soziale Medien hatten für mich aber einen unangenehmen Beigeschmack. Das Wort »Freund« wird dort inflationär entwertet, von meinen zweihundert kenne ich nicht einmal die Hälfte, und von denen, die ich kenne, mag ich nicht einmal die Hälfte. Dort regiert die Oberflächlichkeit und ich bin der Überzeugung, dass bei übermäßigem Genuss der unzähligen Online-Möglichkeiten jener unsichere Schwächling, der in jedem von uns tief oder weniger tief schlummert, aus dem Schlaf gerissen wird, die Feder an sich reißt und seine verbale Diarrhö über das Internet verspritzt. Datenmüll, der polarisiert, die Gesellschaft spaltet wie nichts anderes. Doxing, Cybermobbing, Shitstorm – Neologismen einer neuen Art des Hasses. So zensierst du dich selbst, bevor dich dein »Freund« denunziert. Doch auch wenn die Welt untergeht, am Ende stehe ICH ICH ICH, zugleich König und Sklave meiner Eitelkeit, inmitten meiner x Freunde.
Als junge Studentin, ich denke, es war im zweiten Semester, saß Dmytro regelmäßig neben mir in der Vorlesung. Ein fescher blonder junger Mann aus Saporischschja in der Zentralukraine, was wohl auch seine kosakischen Züge erklärte. Schüchtern musterte ich ihn von der Seite, er schien mich kaum wahrzunehmen. Ich war angetan von seinem gepflegten Äußeren, alles an ihm schien sorgsam geplant zu sein.
Zwei, drei Monate ging das so, bis er endlich den Mut aufbrachte, mich zu einem Spaziergang einzuladen. Nicht etwa auf einen Kaffee oder auf ein Bier, sondern zu einem Spaziergang. Erst später, nachdem mich mehrere Männer aus Russland oder der Ukraine zu einem Spaziergang mit ihnen eingeladen hatten, wurde mir klar, dass der Spaziergang ein wichtiger Teil der ostslawischen Rendezvous-Kultur war. Es handelt sich tatsächlich bloß um einen Spaziergang, ohne irgendwelche Hintergedanken. Dachte ich zumindest. Das gefiel mir, es hatte etwas Ungezwungenes, man geht nebeneinander her, ist nicht genötigt sich immer anzuschauen, ab und zu längeres oder kürzeres Schweigen. Ich fragte mich, ob auch Puschkin, der alte Weiberheld, viel spazieren gegangen war.
So gingen also Dmytro und ich spazieren. Ich fand es schön und indem ich ihm ein bisschen von Paris zeigte, gab ich mir selbst die Möglichkeit, meine Heimatstadt mit frischen Augen wahrzunehmen. Dmytro stellte sich als intelligenter und neugieriger junger Gentleman heraus, ich verbrachte gerne Zeit mit ihm. Wir entwickelten im Laufe der Monate eine ungezwungene, lockere Liebesbeziehung, die auch dem Umstand geschuldet war, dass Dmytro nach einem Semester ohnehin wieder nach Hause zurückkehren würde und wir beide etwas versäumen könnten, was gut war. Auch kam uns die limitierte Zeitspanne entgegen, denn so würde sich das Herzeleid auf Plattitüden von Wiedersehensbekundungen beschränken.
Dmytro war es schließlich, der mich dazu überredete, mir ein Profil im größten russischen sozialen Netzwerk anzulegen. Dort offenbarte sich mir eine vollkommen neue Welt. Frei nach dem Motto »Alles ist erlaubt« tummelten sich dort die peinlichsten Egocaster, die ärgsten Verrückten, alles an Filmen, Musik, Pornografie war frei verfügbar. Während das amerikanische Pendant puritanisch geprägt jeden Nippel zensiert, gibt es solche Restriktionen beim Russen nicht. Junge Frauen stellen ihre gephotoshopten Vorzüge zur Schau, die Männer ihre Waschbrettbäuche sowie ihre Pistolen und Gewehre. Manchmal sieht man das ein oder andere Genital als Avatar. Eine libertäre Spielwiese in einem autokratischen Land. Gelebter Karnevalismus.
So sehr mich dies alles verstörte, so übte es doch eine seltsame Faszination auf mich aus. Doch als ich Dmytros Profil gefunden hatte, kam die nächste, naja, Ernüchterung auf mich zu. Beziehungsstatus: Verheiratet mit Tatjana F. Hübsch ist sie, diese Tatjana, wie fast alle Ukrainerinnen (neidisch bist du Natalie, neidisch!) … Tanja, weißt du, was für einen Hallodri du geheiratet hast? Oder bist du auch so drauf? Dymtro schien sich nicht groß verteidigen zu wollen: »Sie ist ja nicht hier.« Daraufhin ließ ich unsere Beziehung nach und nach und noch vor Ablauffrist erkalten.
So kam es, dass alles, was mir von diesem Intermezzo mit Dmytro blieb, mein Profil im russischen sozialen Netzwerk war. Als ich mich nach gut einem Jahr Pause wieder eingeloggt hatte, wurde ich von Mitteilungen überflutet, die meisten davon betrafen mich aber nicht persönlich. Viele »Freunde« hatte ich dort nicht, ungefähr zwanzig. Ein paar Anfragen zum Spazierengehen waren auch im Postfach. Eine kleine Französin im großen Russland allein, das konnte nicht gutgehen. Nun wollte ich meine russische Online-Präsenz dazu nutzen, mir einen partner-in-crime in Sankt Petersburg zu suchen. Einen Burschen, der Französisch kann. Und bevorzugt nicht mit seinem Geschlechtsteil für sich wirbt.