Der folgende Text ist ein Auszug aus der von mir neu herausgegebenen und kommentierten Ukraine-Reise Christian Hieronymus Justus Schlegels. Der deutsche Chronist und Estonist hat uns mit seinem Werk „Reisen in mehrere russische Gouvernements“ ein wertvolles historisches Dokument über die russische Kolonisierung der Ukraine und der Krim im 18. Jahrhundert hinterlassen.
Katharina II., um die Krim, diese neue Akquisition, in Augenschein zu nehmen1, reiste im Winter 1787 von Petersburg ab. Sie nahm ihren Weg über Pleskow2, Maislaw3, Czernigoff4 nach Kiow. Sie musste sich hier geraume Zeit aufhalten, da der Dniepr dieses Jahr später als gewöhnlich aufging, um die Galeere zu besteigen, die sie nach Cherson tragen sollte.
Auf dem ganzen Wege schien sie gleichsam im Triumphe dahinzueilen. Die Landstraßen waren des Nachts mit brennenden Teertonnen erleuchtet. Pflicht und Neugierde zog den Adel der Gegenden, durch welche sie kam, herbei, um ihr ihre Untertänigkeit zu bezeugen. Die Geistlichkeit hielt Lobreden. Kaufleute von allen Nationen hatten jetzt Gelegenheit, viele ihrer Waren bei der versammelten Menge abzusetzen. Alles war Jubel und Freude: Bälle, Illuminationen, Schauspiele waren an der Tagesordnung. Selbst eine Deputation kirgisischer Tataren von zehn Personen kam zu dieser Zeit in Kiow an, mit einem Sultan an der Spitze. Sie hatten rote Kaftane mit Silber besetzt an und gaben durch ihre Seltenheit ein ziemlich interessantes Schauspiel. Bei der Audienz schienen sie etwas bestürzt zu sein. Aber die Monarchin empfing sie sehr gnädig: So fassten sie wieder Mut.

Kaiserin Katharina II., Aleksej Andropov (18. Jh.)
Am 3. März, morgens um zehn Uhr, fuhr sie in Begleitung einer Flotte von zwanzig zweimastigen Schiffen von Kiow ab. Das, worauf sie sich befand, war durch Größe, Gestalt, Verzierung und Flaggen von den anderen unterschieden. Der Name eines jeglichen war von einem russischen Fluss entlehnt: Samara, Kuban, Don, Soscie5, Desna usw. Das Schiff Dniepr hatte die Souveräne selbst zu tragen.
Widriger Winde wegen legte erst am sechsten die Flotte an dem Kaniewschen Ufer an. Der Dniepr ist an diesem Ort ziemlich tief und an 1000 Ellen breit. Der König von Polen6, jetzt in Kaniew7, ließ dem hohen Gast zu Ehren 102 Kanonenschüsse tun. Militärische Orchester erklangen. Welche Wirkung auf die Zuschauer!

König Stanisław II., Marcello Bacciarelli (1764)
Die Kaiserin blieb Kaniew gegenüber liegen, sodass sie die königliche Residenz und die nahe an dem Ufer aufgeführte Säule mit ihrem Namenszuge vor den Augen hatte.
Gegen 12 Uhr schickte sie zwei schöne Galeeren zur Abholung des Königs mit seinem Gefolge ab. Wegen des schnellen Laufs des Flusses und der Sandbänke aber konnte er erst ungefähr nach einer halben Stunde anlangen. Er wurde vom Fürsten Potëmkin in einem Saale empfangen, wo russische Herrschaften und diejenigen auswärtigen Minister, welche Katharina begleiteten, sich versammelt hatten, und von ihm in ihr Kabinett geführt. Sie war auf das prachtvollste geschmückt.
Als die Zeit zur Tafel gemeldet war, wurden die Kaiserin und der König in einem prächtigen Boot, mit einem mit Gold gestickten Baldachin über sich, zu einer großen Galeere geführt, wo ein Tisch mit 62 Gedecken sich befand. Sie tranken bei Kanonenschall und Tafelmusik auf ihre gegenseitigen Gesundheiten.
Beide zogen sich nach der Mahlzeit zurück. Der König zum Fürsten Potëmkin, wohin ihm die Monarchin den Andreasorden mit einem mit Brillanten reich besetzten Sterne als ein freundschaftliches Souvenir schickte. Er legte ihn sogleich an und stellte sich damit bei der Kaiserin ein.

Feuerwerk in Kanev zu Ehren Katharinas II., Jan Bogumi Plersz (ca. 1787)
Der König führte die Monarchin um halb 9 Uhr in ihr Kabinett. — Nach genommenem Abschied begab er sich unter Kanonendonner und Musik in Gesellschaft der größten Anzahl russischer Herrschaften und der polnischen Herren, die ihn zur Kaiserin hinbegleitet hatten, nach Kaniew, wo sie das Abendessen einnahmen. Während der Zeit ward eine große Colonne mit dem Namenszug der Kaiserin angezündet, die Luft mit künstlichem Flugfeuer angefüllt und die hohen Berge des polnischen Ufers spien gleich einem Vesuv Feuer.
So endigte diese berühmte Entrevue zweier gekrönter Häupter, auf welche Konstantinopel und die christlichen europäischen Mächte all ihre Aufmerksamkeit gerichtet hatten.

Grigorij Potëmkin, Johann Baptist von Lampi (ca. 1790)
[1]Rus.: Путешествие Екатерины II в Крым ⋅ Putešestvie Ekateriny II v Krym, auch Rus.: Таврический вояж ⋅ Tavričeskij vojaž; die legendäre Inspektionsreise der Kaiserin Katharina II. dauerte vom 2. Januar 1787 bis zum 11. Juli 1787. Katharina wollte die neu erworbenen Kolonialgebiete »Neurussland« und die Krim besichtigen. Die Reise wurde von Fürst Potëmkin organisiert. Die Legende von den Potëmkin’schen Dörfern nimmt hier ihren Ursprung. Im Gefolge waren bis zu 3000 Menschen.
[2]Rus.: Псков ⋅ Pskov; Aosl.: Плѣсковъ ⋅ Plěskovŭ
[3] Bel.: Мсціслаў ⋅ Mscislaŭ; Rus.: Мстиславль ⋅ Mstislavl‘; Pol.: Mścisław
[4] Ukr.: Чернігів ⋅ Černihiv, Rus.: Чернигов ⋅ Černigov
[5] Gemeint ist Sotschi; Rus.: Сочи ⋅ Soči
[6] Stanisław II. August war der letzte Wahlkönig von Polen. Er wurde 1764 mit Unterstützung Katharinas II. gewählt. Nach der Dritten Teilung Polens unterzeichnete er am 25. November 1795 seine Abdankung.
[7] Ukr.: Канів ⋅ Kaniv, Rus.: Канев ⋅ Kanev; Pol.: Kaniów; Stadt am rechten Ufer des Dniepr